Ich muss da mal kurz vom Thema abschweifen...
Ein guter Bekannter (früher zur Schulzeit einer meiner besten Kollegen) ist/war Legastheniker. Ich habe mich damit beschäftigt und aus diesem Grund gehe ich jedes Mal fast die Palme hoch wenn ich jemanden von LRS reden höre.
LRS ist eines der Modeworte in Deutschland. Ja, ich sage bewusst "in Deutschland". Ich bin Schweizer mit französischen Wurzeln und kann daher von diesen beiden Ländern berichten. Fragt man hier die Leute was LRS ist oder ob sie schonmal davon gehört haben lautet die Antwort in praktisch allen Fällen "Lese- Rechtschreibschwäche? Noch nie gehört. Das ist doch einfach Legasthenie, oder?". Auf diese Frage muss man mittlerweile leider antworten: Normalerweise ist LRS Legasthenie, in Deutschland ist es die Ausrede für fehlende Erziehung.
Leute die wirklich unter Legasthenie leiden finden das peinlich. Sie setzen alles daran dass ihre Texte so leserlich wie möglich sind. Sie gehen in unzählige Kurse um ihr Aufnahmevermögen zu verbessern, üben wie die versessenen um nicht als Aussenseiter zu zählen. Der Bekannte den ich erwähnte bat mich oft Briefe und Texte auf Schreibmaschine (damals gab es noch kein richtiges E-Mail) vor der definitiven Fassung durchzulesen und kritisch zu verbessern, auch wenn es sich um private Dinge handelte, da er auf keine Fall wollte dass jemand seine Schwäche bemerkt.
Dieses Verhalten zeigte sich mir bei bisher allen Leuten von denen ich weiss, dass sie wirklich eine Schwäche bezüglich Schrift und Sprache haben. Und genau das macht den Unterschied zu LRS in Deutschland.
Da ich einige Freunde in Deutschland habe pflege ich auch den Kontakt und die Reise dorthin. Dabei ist das auch oft ein Thema. Wenn man jemanden fragt, warum seine Texte so schlecht formuliert sind heisst es nüchtern und emotionslos "Hab halt ne LRS.". Kein Wille zur Verbesserung, keine Wille zur Änderung. Bedenkt man auch, dass knapp 4% der Bevölkerung unter einer Schwäche (in welcher Form auch immer) in Schrift leidet so ist die Tatsache, dass praktisch jeder dritte Jugendliche behauptet eine LRS zu haben äusserst speziell.
Oft habe ich mir überlegt warum die überhaupt dazu kommen das vorzugeben. Und da kommen die Eltern ins Spiel. Ein Kind will nicht lernen. Ein Kind will draussen spielen, mit Freunden zusammen sein, Spass haben, die Welt erleben, aber doch sicher nicht drin hocken und büffeln. Zur guten Erziehung gehört es aber genau das zu ändern. Das Lernen zum Erleben zu machen, den Spass dafür zu wecken. Das ist - da kann ich aus Erfahrung sprechen, ich bin auch gerade daran - nicht immer einfach. Vielen Eltern ist das zu viel, sie lassen die Kinder tun und lassen was sie wollen.
Früher oder später ist das aber schlecht. Es heisst "Du, der Sohn von Meiers ist aber auch bisschen dämlich, oder? Das hat er sicher von den Eltern...", "Müllers Tochter ists wohl vom Kopf zwischen die Arme gerutscht...". Oh jeh, was jetzt? Die Lerunwilligkeit des Kindes hat ja plötzlich Einfluss auf die Reputation der Eltern. Etwas ändern, nein danke, viel zu mühsam! Man sucht sich den nächsten Arzt mit Verbindung zu seinem Bruder dem Sprachtherapeuten auf, dieser stellt breitwillig die Diagnose LRS und das Problem ist gelöst. "Unser Kind hat halt eine schwerer Krankheit was Lesen und Schreiben anbelangt, wir können da nichts machen."
Und das ist der Anfang vom Ende.